Samstag, 21. September 2024

Wie ging Betrieb von deutschen Eisenbahnen im 19. Jahrhundert? - ein Anfang, mit Mut zur Lücke

Ich habe mir diese Frage schon öfter gestellt; aber bis jetzt bei weitem keine befriedigenden Antworten gefunden. Also probiere ich nun, das, was ich irgendwo finde, einmal zu einem Bild zusammenzusetzen, bei dem man sich (oder zumindest ich mir) etwas vorstellen kann.

Ganz zu Anfang: "19. Jahrhundert" ist zu heterogen: Was 1890 Stand der Technik und was damals üblich war, ist schon sehr verschieden von dem, was 1850 möglich und Usance war. Und diese Entwicklung hat sich nicht stetig vollzogen, sondern in (vor allem technischen) Sprüngen – wobei andererseits viele alte Verfahren lange überlebt haben, weil sie auf untergeordneten Bahnen ihren Zweck auch erfüllt haben. Um's konkret zu machen, will ich drei Zeitpunkte auswählen, an denen ich versuche, Technik und Betrieb zu beschreiben: 1850, 1870 und 1890. Zu jedem dieser Zeitpunkte will ich mir eine Hauptbahn und, wenn sich das sinnvoll davon trennen lässt, eine untergeordnete Bahn ansehen; und dort mir jeweils sowohl Gedanken über eine Zugfahrt wie über den Verschub machen. Tendenziell möchte ich dabei eher nicht die jeweils modernsten Betriebsmittel beschreiben, sondern was "üblich" war – wenn sich das überhaupt irgendwie herausdestillieren lässt.

Was ist mein Ziel? Mein Ziel ist nicht eine Aufstellung vieler Details, sondern ein zusammenhängendes und verständliches Bild vom Betrieb zu bekommen: Wer tut da was, damit der Betrieb funktioniert? In diesem Gesamtbild spielen Weichenwärter und Blockwärter eine gleich wichtige Rolle wie Heizer und Lokomotivführer, sind – wenn es sich so ergibt – Pferde neben Dampfloks als Antriebskraft ebenso vorhanden wie Menschen. Das "Wimmelbild", das so womöglich entsteht, in eine erklärbare Form zu bringen, wird eine Herausforderung; die andere natürlich, Sachverhalte nicht zu willkürlich einzuführen, aber andererseits nicht nur am Formalen, Beweisbaren, Buchstäblichen kleben zu bleiben.

Wie gehe ich vor? Zuerst einmal wird hier ein "lebender Text" entstehen: Ich werde also immer dann, wenn ich meine, Korrekturen oder bessere Erklärungen anbringen zu wollen, den Text direkt ändern; in Maßen werde ich dabei eine Änderungshistorie mitführen.

Inhaltlich ist die einzige Möglichkeit, Beschreibungen von damals durchzulesen und daraus das Wesentliche und Interessante zu extrahieren. Wo es nur geht, werde ich mich auf vorhandene Primärliteratur stützen, allerdings mit mehreren großen "Abers":

  • Ich werde nicht nur die direkten Aussagen verwenden, sondern sie auch ausgiebig und hoffentlich vernünftig interpretieren, auslegen und damit auch um meine Gedanken und Vorstellungen ergänzen.
  • Ich werde mich eher wenig auf Vorschriften, Signalbücher und dergleichen verlassen, weil diese Dokumente erstens kaum Erklärungen und Beschreibungen liefern; und weil sie meiner Meinung nach oft Zielzustände beschreiben, die oft lange Zeit nicht so vorhanden waren oder gehandhabt wurden – der "Bestand" hatte (und hat) oft ein großes Beharrungsvermögen. Stattdessen suche ich nach den (wenigen) praktischen Beschreibungen, eventuell auch Lehrmaterial, solange und wo es sich nicht zu eng an Vorschriften anlehnt.
Sekundärliteratur werde ich im Lauf der Zeit dort einbeziehen, wo sie interessante Aspekte erklärt oder vielleicht auch nur andeutet. Was ich weitgehend vermeiden will, ist die übliche Einschränkung auf das Signalwesen, und dort wieder auf das Hauptsignal- und Blockwesen: Diese Systeme sind ausufernd dokumentiert worden, teils auch schon im 19. Jahrhundert selbst. Der Anordung von Signalarmen, Lampen, die Funktion von Signalantrieben und anderen technischen Details ist dabei oft viel Aufmerksamkeit geschenkt worden, obwohl die betrieblichen Auswirkungen dieser Aspekte oft vernachlässigbar waren. Auf die Beschreibung der tatsächlichen Betriebsverfahren ist in solchen Dokumentationen oft – zumindest nach meiner Meinung – nicht sehr viel Wert gelegt.

Ich werde mit wenigen Unterlagen beginnen und die intensiv ansehen; dann, im Laufe der Zeit, hoffentlich Fehler und Lücken erkennen und reparieren. Beginnen will ich mit dem Szenario "Hauptbahn um 1850" noch vor Einführung eines elektrischen Telegraphen (der damals schon technisch verfügbar, aber noch nicht allgemein akzeptiert war).

Eine Hauptbahn um 1850

Die Grundlage dieses Abschnitts ist Carl von Damitz' "Bau und Betrieb der Eisenbahnen" von 1849. Damitz war "Abtheilungsbaumeister auf der Niederschlesisch-Märkischen Eisenbahn" (NME) und ein gestandener Techniker, der offenbar sowohl vom Bau wie vom Betrieb viel verstand. Sein Buch ist flüssig geschrieben; braucht an einigen Stellen, vor allem wo es um den Eisenbahnbau geht, einiges an technischem und mathematischem Grundwissen; ist aber im Großen und Ganzen allgemeinverständlich und teils auch ziemlich ironisch. Wer will, kann einige Abschnitte auch als eine Management-Einführung lesen – seine Auslassungen über Zusammenarbeit, (Über-)Bürokratisierung, Bezahlung von Mitarbeitern und Ähnliches sollte man vielleicht in heutigen Zeiten auch beherzigen. Das ist aber nicht das, um was es mir hier geht.

Damitz beschreibt als zugrundeliegendes Fallbeispiel eine Eisenbahn von ca. 150 km Länge zwischen zwei größeren Städten, auf der eine Handvoll Züge pro Tag verkehrt. Ich weiß nicht, auf welcher "Abtheilung" der Niederschlesisch-Märkischen Eisenbahn er tätig war; aber ich könnte mir vorstellen, dass er etwa die Strecke Guben—Liegnitz über Kohlfurt und Bunzlau unter sich hatte, die von 1844 bis 1846 zwischen der Berlin-Frankfurter und dem ersten NME-Abschnitt Liegnitz—Breslau entstand. Aus dieser Strecke nehme ich mir zwei willkürliche Bahnhöfe A und B heraus und skizziere die dazwischenliegende Strecke – eine Erklärung folgt gleich! (Klick öffnet ein größeres Diagramm)


Schauen wir uns dieses Bild einmal von oben nach unten an, bevor ich die Textstellen zitiere, aus denen ich es entwickelt habe:

  1. Der Streckenabschnitt hat eine Länge von etwa 12 km.
  2. Links und rechts sind die zwei Endbahnhöfe A und B zu sehen, wo jeweils ein "Bahnhofsinspector" seinen Dienst tut – i.W. das, was später Fahrdienstleiter genannt wurde.
  3. In den Bahnhöfen gibt es auch Weichenwärter (WW), die ihre eigenen Gebäude haben: In A nur eines auf der Seite Richtung B; in B andererseits, weil der Bahnhof wohl etwas länger ist, zwei auf der A-Seite (die jeweils andere Seite betrachte ich hier nicht).
  4. Entlang der Strecke gibt es Bahnwärter (BW), die i.d.R. ihren Dienst auch als Schrankenwärter tun. Es gibt aber noch zwei weitere Bahnübergänge, die eigene Schrankenwärter (SW) haben, die keine Bahnwärter sind.
  5. Die Bahnwärter-Posten sind halbwegs gleichmäßig verteilt, was einen mittleren Posten-Abstand von 12/9 ≈ 1,3 km ergibt.
  6. Der Bahnhof wird gegen die Strecke durch den rot gezeichneten "Abschluss-Telegraphen" geschützt: Das ist ein Signal mit zwei Armen, das vom nahegelegenen Weichenwärter bedient wird.
  7. Direkt vor dem Bureau des Bahnhofsinspectors steht der grün skizzierte "Perron-Telegraph", mit je einem Arm auf der linken und rechten Seite.
  8. Und entlang der Strecke steht bei jedem Bahnwärter ein "Linien-Telegraph", ebenfalls mit einem Arm auf jeder Seite und zusätzlich einem aufziehbaren Korb (in der Nacht wird stattdessen eine Lampe aufgezogen).

Die Details aus Damitz' Text

Wie komme ich zu dieser Anordnung? Dazu schauen wir uns eine Reihe von Absätzen aus Damitz' Text an. Die Maße habe ich auf heutige Einheiten umgerechnet, Quelle dafür war das Amtsblatt der preußischen Regierung von 1869.

Zu Anordnung der Bahnwärter schreibt er auf S.39 unten:

In der Regel wird man es so einzurichten suchen, daß da, wo nicht Chausséen oder große Landwege quer über die Bahn gehen, die Uebergänge gleich für Wärterstationen und Telegraphen eingerichtet, d. h. nicht weiter als 300 bis 350 [1,1...1,3 km] Ruthen auseinander gelegt werden, eine Entfernung, auf welcher der Wärter von einem Telegraphen zum anderen sehen und die Bahnstrecke vorschriftsmäßig in Ordnung halten kann. Gewöhnlich liegen aber die Uebergänge näher beisammen und erleichtern die Arbeit des Wärters, weil die Umstände es so geboten.
Zum Bau der Telegraphen sagt er auf S.40 dann noch Folgendes:
Telegraphen werden gemeinhin aus starken fichtenen Bäumen von etwa 30 Fuß [10 m] Höhe gefertigt. Das untere Ende bleibt unbearbeitet und kommt 6 Fuß [2 m] oder tiefer in die Erde. Oben befinden sich 2 Arme, auf manchen Bahnen 3, von durchbrochenem Eisenblech, welche mittelst angebrachter starker Eisen von unten auf- und zugezogen werden, außerdem drei Laternenhalter oder zwei dergl. und eine große schwarze Platte. Der Baum ist mit Sprossen versehen, daß die Wärter daran bis oben in die Höhe steigen und etwanige Unregelmäßigkeiten in Ordnung bringen können. Später wird über den Gebrauch des Telegraphen gesprochen werden.
Zu den Dienstposten eines Bahnhofs erhalten wir auf S.45 folgende Informationen:
Der Bahnhofinspector, der Expedient, Perrondiener (Portiers) und einige Weichenzieher [Weichensteller], deren man auf jedem Bahnhofe mittlerer Wichtigkeit immer mehrere bedarf, so wie auf Stationen, wo eine Reserve-Locomotive steht und zur möglichen Aushülfe meistens geheizt werden muß, der Führer oder Feuermann sollten wenn irgend möglich auf dem Bahnhofe oder in dessen Nähe wohnen, da man nie alle Fälle vorhersehen kann und im Winter, wo der Bahnhof vielleicht weit von einer Stadt oder einem Dorf entfernt ist, die plötzliche Herbeischaffung dieser Beamten und Bedienten schwierig sein würde.
Später, auf S.91, kommt ebenfalls eine Beschreibung von Dienstposten und den Verantwortungen des Inspectors:
Für die einzelnen Bahnhöfe haben wir Bahnhofsinspectoren, denen die übrigen Stationsbeamten beziehungsweise subordinirt sind, insbesondere stehen die Weichensteller, Bahnhofsarbeiter, Locomotivführer und Feuermänner, wenn sie dort stationirt sind, unter dem Inspector, nicht minder auch bei durchgehenden Zügen das gesammte Fahrpersonal für die Zeit des Aufenthaltes auf dem betreff. Bahnhofe. Der Abgang der Züge zu einer außergewöhnlichen Zeit, das Entsenden einer einzelnen Maschine etc. geschieht auf seine Gefahr und nur in baulichen Angelegenheiten hat er sich an den Abtheilungsbaumeister zu wenden ... Wo Nachtzüge eingeführt sind, erhält der Bahnhofsinspector einen Assistenten, da wohl niemand den Tag- und Nachtdienst zugleich von ihm verlangen wird.

Zu den Verantwortungen der Bahnwärter steht auf S.93:

Zum Verschluß der Barrièren, wie zum Weitergeben der Signale stellt man nach der Localität, d. h. einmal in Bezug auf den Gesichtskreis und anderentheils mit Rücksicht auf die Wegeübergänge, Bahnwärter an, deren Pflicht außerdem die Beaufsichtigung der Bahn für ihre Strecke, Abhülfe kleiner Mängel auf derselben, Anzeige der größeren an den Bahnmeister und Beobachtung der Züge, wie der Bahnarbeiter, ist.
In den Bahnhöfen gibt es die Weichenwärter, die leider – auch auf S.93 – nur sehr kurz qualifiziert werden:
Die nächst höhere Stelle bei der Bahn ist die des Weichenstellers, deren auf jedem Bahnhofe, je nach der Größe und Ausdehnung desselben, 2, 3 und mehr stationirt sind, die Weichen der kommenden und abgehenden Züge richtig zu stellen.
Danach folgt ein kryptischer unfertiger Satz, der irgendwie eine Hierarchie beschreibt, aber es ist nicht klar, ob sich das auf die Bezahlung bezieht (was ich am ehesten annehme) oder auf irgendeine betriebliche Meldekette – die mir aber eher unsinnig erscheint, weswegen ich diesen Text auch ignoriere:
Vom Weichensteller zum Schaffner, zum Packmeister, zum Zugführer oder Bahnmeister, von da zum Stationsvorstand, Bahnhofsinspector, Betriebsinspector u. s. w.

Ab S.72 beschreibt er sein Fallbeispiel, beginnend mit diesem Text:

Bahn von 20 Meilen Länge [150 km], ... zu Doppelgeleisen eingerichtet, aber zunächst mit einem Geleise hergestellt. Die Oertlichkeit bedingt ... 130 Wegeübergänge. Bahnhöfe sind 8 vorhanden, darunter 2 in großen Städten [das sind lt. S.85 die beiden Endstationen].
Die 8 Bahnhöfe hätten im Mittel einen Abstand von 150 / 7 ≈ 21 km; ich habe mir einen etwas kürzeren Abstand von 12 km ausgesucht, damit ich nicht so viele Wärterposten hinmalen muss. Später, auf S.83, steht dann:
An Wärterhäusern werden 132 und an Telegraphen 130 erfordert. 6 Buden sind für Weichensteller erbaut.
Die 130 Wegeübergänge, 132 Wärterhäuser und 130 Telegraphen[-signale entlang der Strecke] passen gut zusammen. Ich nehme aber an, dass es einzelne Wärterposten gibt, die nicht an einem Bahnübergang liegen; und umgekehrt einzelne Wegeübergänge einen eigenen Schrankenwärter haben. Im Durchschnitt ist der Abstand zweier Wärter 150 / 130 ≈ 1,15 km oder etwas weniger, weil es ja auch noch die Bahnhöfe gibt. Das passt gut mit seinen Angaben von S.39 zum Abstand der "Wärterstationen und Telegraphen" zusammen.

Ab S.98 erfahren wir etwas mehr über die Liniensignale. Diese Signale haben, so interpretiere ich das, zwei verschiedene Funktionen:
  • Zum einen sind sie "Telegraphen-Linien", d.h. sie übertragen unabhängig von den Zügen Informationen entlang der Bahnlinie. Eine wesentliche Information, die hier übermittelt wird, ist: "ein Zug kommt von A" oder "ein Zug kommt von B"; aber auch das Gegenteil: "Der (laut Fahrplan oder vorheriger Ankündigung zu erwartende) Zug kommt nicht". Diese Information dient verschiedenen Zwecken:
    • Die Bahn- und Schrankenwärter erfahren dadurch, ob sie ihre Barrieren schließen müssen.
    • Dem Zielbahnhof wird die planmäßige Fahrt vorausgemeldet.
    • Wenn auf einer eingleisigen Strecke solche Liniensignale gegeneinander laufen, dann droht offensichtlich ein Zusammenstoß. Der Bahnwärter, der das feststellt, kann nun einerseits ein Linien-Signal "alles anhalten" an seine Nachbarsposten geben und andererseits einem der Züge entgegenlaufen, um ihn aufzuhalten (den anderen muss sein Nachbar stoppen).
    Neben diesen grundsätzlichen Informationen gab es einige, oder je nach Eisenbahn auch viele, weitere Liniensignale – Max Maria von Weber lässt sich darüber ziemlich kritisch aus, was ich vielleicht irgendwann kurz vorstelle. Wichtig waren in der Anfangszeit der Eisenbahn Hilfssignale, da die Lokomotiven nicht sehr zuverlässig waren; und am Ende des Betriebs (in der Nacht wurde am Anfang nur zögerlich gefahren) ein Signal für den Dienstschluss.
  • Neben dieser eigentlichen "Linien-Funktion" gab es aber auch noch die Notwendigkeit, die Züge zu informieren, und zwar vor allem über die Befahrbarkeit der Gleise: Denn auch die Schienen waren unzuverlässig und mussten daher nach jedem(!) Zug kontrolliert werden. v.Damitz schreibt dazu auf S.100:
    Daß diese [die Bahnwärter] sonst und zu der bekannten Fahrzeit der Personen- und Güterzüge auf ihren Posten sind und vor und hinter denselben ihre Strecken revidiren, versteht sich wohl von selbst.
    und auf S.101:
    Vor und nach jeder Fahrt begeht der Wärter seine möglichst nur 300° [Ruthen ≈ 1,1 km] lange Strecke, auf welcher er gewöhnlich in der Mitte steht, hängt an den beiden Endpunkten derselben auf kleine, sogenannte Revisionskreuze, die Blechnummer des eben passirten täglichen Zuges (von 1 bis 8 oder mehr) und meldet dem Bahnmeister bei dessen täglicher Bahnrevision den Zustand der Bahn.
    Wenn der Bahnwärter dabei ein Gebrechen feststellte, musste er kommende Züge aufhalten können – es geht hier also um ein Signal an die Zugmannschaft.
Tatsächlich lassen sich diese zwei Funktionen, also einerseits Informationsaustausch zwischen "Einrichtungen am Boden" und andererseits von diesen Einrichtungen zu den Zügen, nicht scharf trennen: Denn die Gebrechensmeldung an den Zug war auch eine an die Nachbarposten, die so die Bahnhöfe über das Problem informierten; und (siehe Weber) jede Eisenbahn erfand da ihre eigenen Signalbegriffe mit jeweiligen Bedeutungen und Regeln. Der Text von Damitz' scheint aber Signale vorauszusetzen, wo die erste Funktion über Signalarme, die zweite aber über einen hochgezogenen Korb wahrgenommen wird. Drei Bilder solcher Signale (der Oberschlesischen Eisenbahn) sieht man in einem Artikel von Piotr Zdanowicz auf der Webseite wachtyrz.eu. Damitz beschreibt ihre Verwendung bei verschiedenen Eisenbahnen auf S.99 so:
In Bezug auf die Signale selbst, so finden bei den verschiedenen Bahnen auch verschiedene Methoden statt, diese zu geben. Oft zieht man Morgens früh den Korb, läßt ihn bis zum Dunkelwerden oben und ersetzt ihn dann durch die Laterne, welche so lange oben bleibt, bis der letzte Zug am Stationsorte ist, wo Nachtzüge gehen, bis zum Morgen.
Oft zieht der Wärter Korb oder Laterne hoch, wenn durch den Locomotivführer die Dampfpfeife ertönt, läßt beides aber wieder herunter, wenn der nächste Bahnwärter das Signal aufgenommen hat. Die Bahn ist des Abends finster, der Wärter aber tritt mit seiner Handlaterne dicht an die Fahrbahn. Eine solche Einrichtung spricht wenig an und wir erklären uns mit der erstgenannten Art viel mehr einverstanden, denn es gewährt sicher einen erhebenderen Anblick, die ganze Bahn durch ihre Telegraphenlaternen erleuchtet zu sehen; es zeugt gewissermaßen für das auf ihr befindliche Leben, flößt Vertrauen für dasselbe ein und scheucht Uebelthäter zurück, die irgend ein Verbrechen beabsichtigen. Der Wärter selbst ist gesicherter und das wenige Oel der Laternenlampe kann für überwiegende Vortheile nicht in Betracht kommen.
Bei noch anderen Bahnen wird das Lichtsignal kurz vor dem Fahrsignal gegeben und mit diesem zugleich nach Ankunft des Zuges an dem Stationsorte eingezogen. Am angemessensten erscheint es, das Lichtsignal zu geben und stehen zu lassen, das Fahrsignal dagegen einzuziehen, wenn der Zug bei dem Telegraphen vorüber ist. Wozu das Stehenbleiben der Signale so lange? — Ob die Abgangsstation weiß und sieht, der Zug ist an der folgenden angekommen, oder ob sie es nicht weiß, ist völlig einerlei; will der Zug, wenn ihm ein Unfall zugestoßen, von dort Hülfe, so wird schon das Hülfssignal gegeben werden, anderenfalls wird er ruhig in dem folgenden Bahnhof einfahren.

Schlussendlich kommt er doch, auf S.100, zu einer möglichen(!) Bedeutung der Signale, aus der ich diese Trennung der Funktionen schließe:

Bezüglich der verschiedenen Fahr-, Absage-, Hülfssignale, so hat jede Bahn ihre desfallsigen Instructionen nebst Bahnpolizei und Strafreglements, weshalb wir sie hier wohl nicht weiter erörtern dürfen. Der Telegraphenarm kann drei verschiedene Stellungen erhalten, im Winkel von 45º aufwärts, in der Regel: der Zug kommt ! Im Winkel von 45º abwärts: der Zug kommt nicht! im rechten Winkel: eine Hülfsmaschine muß kommen. Korb hoch: die Bahn ist in Ordnung, halb hoch: es muß langsam gefahren werden, ganz herunter: der Zug muß halten u. s. w.

Parallel zu diesen ortsfesten Signalen sind auch die Züge selbst als Informationsträger verwendet worden, indem Fahnen oder Lampen anzeigen, ob und welche Folgezüge fahren oder nicht fahren. Das habe ich in meiner Skizze nicht untergebracht, und im Großen und Ganzen glaube ich, dass diese Signalisierung auch nur für außerplanmäßige Züge verwendet wurden, wie Nachzüge zu einem "Hauptzug". Damitz' Text ab S.99 dazu zitiere ich hier, aber eher, um ihn gleich wieder zu vergessen, weil ich mich vorerst nur auf den Regelbetrieb konzentrieren will:

Ein ebenfalls nicht zu billigender Gebrauch bei manchen Bahnen ist, daß ein Zug mit der rothen Fahne auf dem hintersten Wagen die Bahnwärter zum Stehenlassen des Signals veranlaßt. Fährt ein solcher Zug mit der rothen Fahne, so weiß der Wärter, daß ein Zug folgt, er weiß aber nicht, ob dies nach 10 Minuten oder nach einer und zwei Stunden oder noch später geschieht, gleichwohl bleibt das Signal stehen und giebt nicht selten zu großen Irrungen Anlaß. Das müßte nicht sein und mag immerhin die rothe Fahne den Wärter zur Aufmerksamkeit spornen, das Signal müßte unmittelbar hinter dem Hauptzuge fallen und sich mit der Abfahrt des nachfolgenden Zuges erst wieder erneuern. Dann würde niemals ein derartiges Mißverständniß vorkommen können. Fährt dagegen eine vorgehängte Maschine nach der Ankunft auf der Nachbarstation sogleich wieder zurück, so hat diese die Fahne aufgesteckt. Wird ein Zug zu ungewohnter Zeit von entgegengesetzter Seite erwartet, so hat der erste Wagen die Fahne voran. Bei Abend oder Nacht statt der Fahne die Laterne. Alles um die Bahnwärter zu avertiren.

Zu den Telegraphen der Bahnhöfen, also den Abschluss-Telegraphen (historisch später als Distanzsignale bezeichnet, noch später als Einfahrsignale) und den Perron-Telegraphen sagt er nichts. Dagegen erwähnt er die Weichensignale auf S.49:

desgleichen ist bei jeder Weiche eine solche [Laterne] mit farbigem Glase und die Weichen selbst sind numerirt.
und erklärt auf S.102, dass sie damals – bei Schleppweichen und niedrigen Fahrgeschwindigkeiten – de facto die Bedeutung von Wegesignalen hatten:
Die Weichen auf den Bahnhöfen erhalten rothe und weiße Tafeln, rothe und weiße Laternen und die Locomotivführer sehen von Weitem schon an der Farbe der Weichentafel oder der Weichenlaterne, ob die Weiche selbst richtig steht, denn die Tafel etc. dreht sich mit derselben und zeigt offen "roth"; zu - "weiß“, oder umgekehrt.
Der Lokführer hatte also eine Mitverantwortung dabei, ob der korrekte Fahrweg eingestellt und befahren wurde; wenn das nicht der Fall war, musste er anhalten.

An dieser Stelle mache ich einmal Schluss, weil ich hier alle hilfreichen Ausschnitte aus v.Damitz' Text aufgeführt habe. Zu Perron- und Abschluss-Signalen muss ich mich woanders noch ein wenig kundig machen und das hier erklären – erst dann werde ich ein erstes Mal versuchen, den Ablauf einer Zugfahrt zu beschreiben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen