Montag, 6. November 2023

Über das Auffahren einer Weiche

Auf Wikipedia gibt's eine Diskussion darüber, wie erstaunlich oder nicht erstaunlich es ist, dass bei Auffahren einer Weiche die Zungen unter der Verkehrslast auf den Gleitstühlen verschoben werden. Weil ich vor langer Zeit einmal ein Video des Auffahrens einer Rückfallweiche in Langenlois aufgenommen habe, wollte ich ungefähr rausfinden, ob das so ist und was da genauer passiert.

Das Video zeigt die Fahrt eines 5047 über die Rückfallweiche 1. Die Umstellung und Befahrung der Weiche erfolgt ca. in den Sekunden 10 bis 15 des Videos. Zur Analyse habe ich diesen Abschnitt einmal in einzelne Frames zerlegt; jeweils 30 davon sind eine Sekunde:

Jeder zweite Frame von 300...329:


Jeder zweite Frame von 330...359:


Jeder zweite Frame von 360...389:


Jeder zweite Frame von 390...419:


Jeder zweite Frame von 420...449:


Als erstes stellen wir die Geschwindigkeit des Zuges fest: Im Frame 363 verschwindet die führende Achse im Video links; im Frame 418 verschwindet die führende Achse des zweiten Drehgestells. Bei 30 fps (frames per second) sind das also (418 – 363) / 30 = 1,85 s Fahrzeit. Mit einem Drehzapfenabstand von 16600 mm (herauszufinden z.B. aus einer Zeichnung in diesem Zusi-Thread) ergibt das eine Geschwindigkeit von 16,6 / 1,85 oder knapp über 9 m/s (oder 33 km/h).

Man kann das noch mit anderen Maßen kontrollieren, z.B. der LüP des 5047 von 25,4 m, die 83 Frames oder 83 / 30 = 2,77 Sekunden für das Vorbeifahren braucht: Daraus ergeben sich als Geschwindigkeit 25,4 / 2,77 m/s = 9,18 m/s, also etwa 1,5 % mehr – genauer werden wir die Geschwindigkeit hier nicht schätzen können.
Prinzipiell müsste ich auch noch die Beschleunigung dieses gerade ausfahrenden Triebwagens berücksichtigen. Die Reibungsgrenze des 5047 dürfte um die 35 km/h liegen (maximal mögliche Antriebskraft ohne Schleudern am Triebdrehgestell des 2'B'-Triebwagens wäre 22 Tonnen ≙ 220 kN multipliziert mit Reibungsbeiwert 0,2 ≈ 44 kN, und der Motor bringt tatsächlich bei dieser Geschwindigkeit eine Kraft von 419 kW / 10 m/s ≈ 42 kN auf – man fährt also hier gerade noch, oder gerade nicht mehr, durch die Reibung begrenzt). Mit dieser Antriebskraft erhält man nach dem 3. Newton'schen Gesetz F = m · a eine Beschleunigung von um die 42 kN / 44 t  ≈ 1 m/s2, was innerhalb der Sekunde Fahrzeit, die uns interessiert, eine Änderung von z.B. 9 auf 10 m/s ermöglicht, also mehr als 10 %. Allerdings sind meine "Messungen" und darauf aufbauenden Abschätzungen so ungenau, dass ich meine, diese Änderung der Geschwindigkeit ignorieren zu können. Daher zurück zur Weiche!
Welcher Teil der Weiche, und vor allem der Zungen und der Gleitstühle, wird nun wann befahren, und wie bewegen sich die Zungen dabei?

Zuerst einmal schauen wir, wie lange die auf Gleitstühlen gelagerten Zungenteile sind. Von der Weiche 1 habe ich kein so gutes Bild aufgenommen, aber von der Weiche 52 auf der Gegenseite gibt es im oben verlinkten Posting diese Aufnahme:

Weiche 52, Langenlois, 2012

Draufklicken und Vergrößern zeigt, dass ca. 12 Schwellen mit Gleitstühlen bestückt sind, danach folgen die geschwächten Biegestellen der Federschienenzungen und danach die Zwischenschienen. Das passt mit der Zeichnung der Federschienenzungenvorrichtung einer EW 49-190-1:9 etwa aus dem Buch "Weichen" von G.Berg und H.Henker aus dem transpress-Verlag aus dem Jahr 1986 zusammen.

Damit können wir die Befahrung nun einzeln aufschlüsseln: Wir haben 12 Gleitstühle im Abstand von zuerst 650 und dann 600 mm, die Länge der beweglichen Zunge ist also etwa 12 · 625 mm = 7,5 m. Bei 9 m/s beginnt das Befahren der Zunge also 7,5 / 9 = 0,83 s oder 25 Frames, bevor die führende Achse die Zungenspitze befährt. Letzteres erfolgt oben im Frame 362, sodass wir unsere Analyse im Frame 337 beginnen:

Frame 337 des Auffahrens, Langenlois, 2012

In den folgenden Tabellen trage ich neben den Framenummern und zeitlichen und Längenabständen der ersten Achse von der Zungenspitze auch die Nummer des Gleitstuhls ein, den die erste Achse gerade befährt und dann einen Kommentar zum Vorgang, der gerade stattfindet:

Frame-#s bis Zungenspitzem bis ZungenspitzeGleitstuhl-#Vorgang
der ersten Achse
3370,83 s7,5 m11. Achse verlässt Biegestelle

Kurz darauf, im Frame 342, sieht man, dass die abliegende Zunge sich ein wenig nach innen bewegt! – oder vielleicht ein wenig nach innen kippt:

Frame 342 des Auffahrens, Langenlois, 2012

Frame-#s bis Zungenspitzem bis ZungenspitzeGleitstuhl-#Vorgang
der ersten Achse
3370,83 s7,5 m11. Achse verlässt Biegestelle
3420,66 s6 m3Zunge bewegt sich nach innen

Drei Frames später hört diese Bewegung auf, es folgen zwei bewegungslose Frames. Aber dann beginnt im Frame 347 die Zungenbewegung:

Frame 347 des Auffahrens, Langenlois, 2012

Frame-#s bis Zungenspitzem bis ZungenspitzeGleitstuhl-#Vorgang
der ersten Achse
3370,83 s7,5 m11. Achse verlässt Biegestelle
3420,66 s6 m3Zunge bewegt sich nach innen
3450,57 s5 m4Kurze Ruhe
3470,5 s4,5 m5Beginn der Zungenbewegung unter Last

Und etwa elf Frames später, im Frame 358, hat die Zunge ihre Endlage erreicht:

Frame 358 des Auffahrens, Langenlois, 2012

Frame-#s bis Zungenspitzem bis ZungenspitzeGleitstuhl-#Vorgang
der ersten Achse
3370,83 s7,5 m11. Achse verlässt Biegestelle
3420,66 s6 m3Zunge bewegt sich nach innen
3450,57 s5 m4Kurze Ruhe
3470,5 s4,5 m5Beginn der Zungenbewegung unter Last
3580,13 s1,2 m11Zunge in Endlage an Backenschiene

Noch einmal vier Frames später fährt die erste Achse, die diese Umstellung bewirkt hat, über die Zungenspitze, und das Auffahren ist beendet:

Frame 362 des Auffahrens, Langenlois, 2012


Frame-#s bis Zungenspitzem bis ZungenspitzeGleitstuhl-#Vorgang
der ersten Achse
3370,83 s7,5 m11. Achse verlässt Biegestelle
3420,66 s6 m3Zunge bewegt sich nach innen
3450,57 s5,2 m4Kurze Ruhe
3470,5 s4,5 m5Beginn der Zungenbewegung unter Last
3580,13 s1,2 m11Zunge in Endlage an Backenschiene
3620,0 s0 m12Vorderste Achse befährt Zungenspitze

Bezüglich der ursprünglichen Frage sieht man also, dass sich die abgedrängte Zunge tatsächlich unter der Fahrzeuglast auf den Gleitstühlen bewegt. Und da der Achsstand des führenden Drehgestells 2 m beträgt, die Zungenbewegung aber über eine Fahrstrecke von 3,3 m (von 4,5 bis 1,2 m vor dem Erreichen der Zungenspitze) anhält, fährt auch die zweite Achse über die sich noch bewegende Zunge. Die Radsatzmasse eines 5047 ist ca. 11 t, die Last eines einzelnen Rades also etwa 55 kN, sodass die Zunge während der Umstellung unter der Last zweier Räder, also von etwa 110 kN steht. Mit einem Reibungskoeffizient von irgendwo zwischen 0,1 und 0,2 für die Zungenlagerung (je nach Einsatz von Rollenlagern, Zustand der Schmierung usw.usf.), die ich irgendwo gelesen habe – leider weiß ich nicht mehr wo –, ergibt das eine nötige Verschiebekraft von etwa 15 kN (die die erste Achse spielend aufbringt). Wenn ich zuletzt annehme, dass der Verschleiß des Systems grob linear zur Verschiebekraft ist, dann ist er beim Auffahren, also der Umstellung unter Last, etwa 10-mal so groß wie beim Umstellen ohne Last, wo sich die Umstellkräfte zwischen 1 und 3 kN bewegen, wenn man der viertletzten Seite des online verfügbaren "Skript Weichenkonstruktion" der Brandenburgischen Technischen Universität, Lehrstuhl Eisenbahn- und Straßenwesen, glaubt.

Wenn eine solche Weiche pro Tag, etwa bei Stundentakt, von 15 Zügen aufgefahren wird, dann entspricht (oder entspräche, um's sicherheitshalber so auszudrücken) das also dem Verschleiß ca. 150-fachen normalen Umstellens pro Tag – was in Abzweigeweichen auf Nahverkehrssystemen oder manchen Weichen großer Bahnhöfe sicher erreicht wird. Der Verschleiß ist also nicht "aus der Welt", sondern kann von den üblichen Konstruktionen aufgenommen werden – eine Spezialkonstruktion ist nicht nötig.

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